Das EU-Grenzregime

Oft werden Grenzen als einfache territoriale Trennungslinien verstanden. Jedoch sind Grenzen mehr als nur eine materielle oder geografische Linie. Vielmehr sollten Grenzen als Praktiken und Prozesse verstanden werden, die aus Infrastrukturen, Technologien, (Visa)prozessen, Gesetzen, Institutionen und Diskursen definiert werden. Innerhalb unseres Tutoriums haben wir uns auf dem Begriff des „Assemblage“ (dt. Zusammenstellung) in Bezug auf Grenzen bezogen „There is a whole apparatus connected with the geopolitical border – not just a police and military system, but cartographic, diplomatic, legal, geological, and geographical knowledges and practices“ (Walters, 2002, S. 563).

Der Regimebegriff umfasst diese unterschiedlichen Praktiken und wird definiert als »Ensemble von gesellschaftlichen Praktiken und Strukturen – Diskurse, Subjekte, staatliche Praktiken« (Karakayalı, Tsianos, 2007). Ein Migrationsregime ist geprägt durch institutionelle Arrangements und staatliche Migrationspolitiken, wird gleichzeitig aber auch gestaltet und immer wieder herausgefordert durch die sozialen Praktiken einer Vielzahl von Akteur:innen, wie der Agentur FRONTEX (Europäische Grenz- und Küstenwache), Institutionen des europäischen Rechts (wie das Gemeinsame Europäische Asylsystem) und Standardisierungs- und Harmonisierungsprozessen innerhalb der EU. Hess und Sembdner (2021) identifizieren vier zentrale Paradigmen für das EU-Migrations und Grenzregime:

  1. die Externalisierung (siehe Glossar): unter Externalisierung versteht man das „outsourcing“ und „offshoring“ von Grenzkontrolle. Dieses Paradigma beschreibt, dass Migration bereits außerhalb eigentlicher  Grenzen versucht wird zu beeinflussen und zu kontrollieren.
  2. die robuste Grenze: unter robuste Grenze wird die Kontrolle und Militarisierung von Grenzräumen verstanden. Dies umfasst auch den vermehrten Einsatz von Technologien, Digitalisierung und Biometrisierung der smarten Außengrenze.
  3. das interne Regime: das interne Regime beschreibt Prozesse der Europäisierung, die Institution des Asyls durchdrungen hat (wie das Gemeinsame Europäische Asylsystem)
  4. die Humanitarisierung der Grenzen: unter dem Paradigma der Humanitarisierung versteht man, dass Migrationskontrolle unter dem Deckmantel von Diskurse und Praktiken humanitärer Interventionen passieren

Diese vier Paradigmen können als zentrale Säulen des EU-Grenz- und Migrationsregimes verstanden werden, mit dem Ziel der Kontrolle der Außengrenzen, der Abschottung und der Ausgrenzung politisch unerwünschter Migration. Die Paradigmen stehen nicht für sich allein und können sich überschneiden und prägen. Alle Paradigmen werden an der EU-Außengrenze zu Serbien sichtbar und haben daher für die Analyse unseres Forschungstutoriums eine zentrale Rolle gespielt.

Literatur

Hess, S., & Schmidt-Sembdner, M. (2021). Grenze als Konfliktzone – Perspektiven der Grenzregimeforschung. In D. Gerst, M. Klessmann, & H. Krämer (Hrsg.), Grenzforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. (S. 190–205). Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845295305-190/grenze-als-konfliktzone-perspektiven-der-grenzregimeforschung?page=1

Karakayali, S. and Tsianos, V. (2007). ‘Movements that Matter. Eine Einleitung’. In: Transit Migration Forschungsgruppe (ed.) Turbulente Ränder: Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas. Bielefeld: Transcript., 7–17.

Walters, W. (2011). ‘Foucault and Frontiers: Notes on the Birth of the Humanitarian Border’. In: Bröckling, U., Krasmann, S., Lemke, T. (2011). Governmentality Current Issues and Future Challenges.