Die sogenannte Balkanroute

Die sogenannte Balkanroute bezeichnet die Wegstrecke von der Türkei nach Westeuropa. Seit Jahrhunderten wird diese Route für Handel- und Warentransfer als Reiseroute und auch von Menschen auf der Flucht genutzt. Die “Balkanroute” als “Fluchtkorridor” existierte somit bereits vor den Migrationsbewegungen 2015 und der damit verbundenen medialen Aufmerksamkeit.

2015 als Katalysator der Versicherheitlichung
Die “Balkanroute” gelangte im Zusammenhang mit der sogenannten europäischen "Flüchtlingskrise" in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Länder entlang der Route werden als zentrale Akteure bei der Steuerung und Kontrolle der Migration in die EU angesehen.

Ursprünglich ausgelöst durch den Arabischen Frühling und den syrischen Bürgerkrieg, kam es 2015 zu einer großen Migrationsbewegung. Viele Menschen erreichten Griechenland, wo das Asylsystem komplett überlastet war.  Sie entschieden sich daher, weiter den Weg Richtung Westeuropa zu gehen. In Ungarn wurden sie jedoch daran gehindert, weshalb eine steigende Anzahl an Menschen am Bahnhof Keleti fest hing. Medien berichteten über viele Menschen, die ohne Aufnahme - und Unterbringungsmöglichkeiten von Lesbos bis zum Bahnhof Keleti blieben. Gleichzeitig ertrank 2015 Alan Kurdi im Mittelmeer, ein zweijähriger syrischer Junge. Das Bild der Leiche des kleinen Jungen wurde in ganz Europa medial verbreitet und führte zu Forderungen nach einer humanitären Reaktion auf die Migrationsbewegungen (Kingsley, 2016).

Als Reaktion auf die Situation am Bahnhof Keleti begannen die Menschen den "March of Hope", mit dem sie selbstorganisiert über die Autobahn in Richtung der ungarisch-österreichische Grenze liefen, wodurch eine zeitweise Öffnung der Grenzen durch Österreich und Deutschland hervorgerufen wurde. Es kam zu einem beispiellosen "humanitären Korridor", der von Ländern im Süden der Balkanroute, nämlich Serbien und Mazedonien, ausging (Beznec, Speer und Stojić Mitrović, 2016). Der Korridor bedeutete, dass eine Reihe von Grenzkontroll- und Mobilitätsbeschränkungen entlang der Balkanroute von den Behörden aufgehoben wurden, was es den Reisenden ermöglichte, den Balkan von Nordgriechenland nach Westeuropa zu überqueren. Die Staaten entlang der Route erleichterten die Reise der Menschen mit Transitvisa und speziellen Zügen und Bussen (Beznec, Speer und Stojić Mitrović, 2016, S.4). Die Einrichtung des Korridors wurde mit der Ankündigung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel formalisiert, dass das Land Menschen aufnehmen und das Dublin-Abkommen für syrische Staatsangehörige aussetzen würde. Das bedeutete konkret, dass Syrer:innen im Rahmen des Dublin-Systems nicht in die Länder der Ersteinreise zurückgeschickt werden würden. Die Länder entlang des Korridors begrüßten die Ankündigung, da sie implizierte, dass die Menschen durchreisen könnten, um nach Deutschland zu gelangen.

Kontrolle und Schließung des formalisierten Korridors

Der Korridor wurde jedoch nicht von allen Ländern entlang der Route unterstützt: Bereits im September 2015 begann Ungarn mit dem Bau eines Zauns an seiner Grenze zu Serbien, schloss im Oktober seine Grenze zu Kroatien (Abikova und Piotrowicz, 2021) und führte ein restriktives Asylsystem ein, um Migrationsbewegungen zu verhindern. Ende 2015 und Anfang 2016 begann die schrittweise Schließung des Korridors durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten, aber auch von Nicht-EU-Ländern, wie Serbien und Mazedonien. Im November 2015 wurden Grenzübertritte nur noch für Menschen aus Syrien, Irak und Afghanistan erlaubt. Im Februar 2016 wurde der Korridor als Ergebnis eines EU-Gipfels zunächst nur für Afghanen und am 8. März 2016, ganz geschlossen (Beznec et al., 2016). Außerdem wurde im März 2016 das EU-Türkei-Abkommen verabschiedet, wodurch die Zahl derer, die über diese Route einreisten, reduziert werden sollte (Weber, 2017). [Einen detaillierte Übersicht, wie es zum formalisierten Korridor kam bzw. wie dieser geschlossen wurde findet ihr hier]

Aktuelle Entwicklungen und Ausblick

Nach der Schließung des Balkankorridors im März 2016 waren die Menschen auf der Flucht gezwungen, in den angrenzenden Ländern wie Serbien zu bleiben (Beznec et al., 2016). Seitdem ist die Situation für Menschen auf der Flucht in den westlichen Balkanländern durch verstärkte Kontrollmaßnahmen geprägt: Grenzzäune, Pushbacks und die Zunahme der operativen Aktivitäten von Grenzkontrollagenturen wie Frontex, hat dazu geführt, dass sich die Balkanroute zu einem „Balkan Circuit“ (Hameršak et al., 2020, S. 20) und Serbien für PoM zu einem Land mit erzwungenem Aufenthalt entwickelt hat (Beznec et al., 2016; Stojic Mitrovic, 2019).
Gleichzeitig verdeutlicht die Verschärfung der Kontrollmaßnahmen nach 2016 beschleunigte eine bereits bestehende Strategie, die Nicht-EU-Mitgliedstaaten entlang der Balkanroute in die EU-Agenda zur Migrationskontrolle einzubeziehen. Im Zusammenhang mit Migration und Grenzmanagement bezeichnete die EU-Kommission die westlichen Balkanländer als "Partner auf der globalen Bühne" (Europäische Kommission, 2018). Es wurde deutlich, dass Nachbarstaaten wie Serbien eine zentrale Rolle bei der Kontrolle der Grenzen und der Migration in die EU spielen sollten, um die "irreguläre Migration" zu reduzieren (Weber, 2017). In diesem Zusammenhang hat Serbien eine besonders interessante Position als geografischer Zugangspunkt zur EU entlang der Balkanroute, als EU-Beitrittskandidat und aufgrund seiner Bedeutung im Jahr 2015.

Die Einbindung des Landes in die EU-Strategie der Migrationskontrolle erfolgt nicht nur durch die physische Errichtung von Grenzzäunen. Externalisierungspraktiken der Grenzkontrolle zielen auf "Outsourcing und Offshoring" (Buckel, 2011) von Migration und Grenzkontrolle ab, um politisch unerwünschte Migration zu verhindern. Zu diesem Zweck versucht die EU, über ihre territorialen Grenzen hinaus Einfluss auf die Migration und das Grenzmanagement in Nicht-EU-Ländern, wie Serbien, zu nehmen.  Die EU-Strategie der Migrationseindämmung in Zusammenarbeit mit Nicht-EU-Ländern lässt sich in einer Vielzahl von Abkommen und Politikbereichen, in Form von Rückübernahmeabkommen und einer verstärkten wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit erkennen (Mitrović et al., 2020). Wissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass die Auslagerung der Migrationskontrolle einen "bottleneck” in den Ländern entlang der Balkanroute schafft, indem Menschen daran gehindert werden, europäischen Boden zu erreichen, oder ihre Rückkehr in Nachbar- oder Transitländer erleichtert wird (Weber, 2017, S.3).

Literatur

Abikova, J. and Piotrowicz, W. (2021) ‘Shaping the Balkan corridor: Development and changes in the migration route 2015–16’, International Migration, 59(5), 248–65.

Beznec, B., Speer, M. and Stojić Mitrović, M. (2016). Governing the Balkan Route. Research Paper Series of Rosa Luxemburg Stiftung Southeast Europe 5. Available from: https://www.rosalux.de/en/publication/id/14554/governing-the-balkan-route

Buckel, S. (2011). ‘Das spanische Grenzregime. Outsourcing und Offshoring’, Kritische Justiz, 44(3), 253–61.

European Commission (2018). Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European and Social Committee and the Committee of the Regions: A credible enlargement perspective for and
enhanced EU engagement with the Western Balkans. Retrieved from https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX:52018DC0065.

Kingsley, P. (2015, July 9). ‘Greek island refugee crisis: local people and tourists rally round migrants’, The Guardian. Retrieved from https://www.theguardian.com/world/2015/jul/08/greek-island-refugee-crisis-local-people-and-tourists-rally-round-migrants

Mitrović, M., Hameršak, M., Speer, M. and Hess, S. (2020). ‘The Forging of the Balkan Route. Contextualizing the Border Regime in the EU Periphery’, movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies, 5(1).
Retrieved from http://movements-journal.org/issues/08.balkanroute/01.hamersak,hess,stojicmitrovic,speer--the-forging-of-the-balkan-route.html

Tremlett, A. and Messing, V. (2015, August 4). Hungary’s future: anti-immigration, anti-multiculturalism and anti-Roma?. openDemocracy. Available from: https://www.opendemocracy.net/en/can-europe-make-it/hungarys-future-antii
mmigration-antimulticulturalism-and-antiro/ [Accessed 20 January 2023 ]

Weber, B. (2017). ‘The EU-Turkey Refugee Deal and the Not Quite Closed Balkan Route’, Friedrich Ebert Stiftung.